Bakterielle Waffen gegen virale Erkrankungen

Zwei neue Naturstoffklassen mit Wirksamkeit gegen RNA-Viren entdeckt

Mit SARS-CoV-2 infizierte Lungenzelle bildet neue Viruspartikel (grün) in ihrem Zytoplasma (violett: Zellkerne). ©HZI/Ulfert Rand

Die COVID-19-Pandemie hat auf dramatische Weise gezeigt, dass die Entwicklung effektiver Wirkstoffe gegen virale Krankheitserreger von großer Bedeutung für die globale Gesundheit ist. Obwohl für zahlreiche Viruserkrankungen wirksame Impfstoffe zur Verfügung stehen, besteht ein dringender Bedarf an neuen und effektiven Therapiemöglichkeiten. Am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) erforscht das Team um Prof. Rolf Müller neue Wirkstoffe zur Behandlung von Infektionen. In ihren neuesten Studien konnten die Forschenden gleich zwei neue Naturstofffamilien mit vielversprechender Aktivität gegen Viren identifizieren. Ihre Ergebnisse wurden jetzt in der Fachzeitschrift Angewandte Chemie International Edition veröffentlicht.

Die durch SARS-CoV-2 ausgelöste COVID-19-Pandemie hat Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt in nie dagewesener Weise herausgefordert. Die rasante globale Ausbreitung dieses Erregers, verbunden mit teilweise schweren Krankheitsverläufen, zeigt, wie dringend wirksame Medikamente zur Behandlung von Viruserkrankungen benötigt werden. SARS-CoV-2 ist jedoch bei weitem nicht das einzige humanpathogene RNA-Virus mit hoher wirtschaftlicher und sozialer Relevanz. Daher ist, besonders auch im Hinblick auf mögliche virale Pandemien in der Zukunft, die Identifizierung neuer Wirkstoffe mit breiter Wirksamkeit gegen neu auftretende virale Infektionserreger von größter Bedeutung. Das Team um Rolf Müller forscht am HIPS seit vielen Jahren erfolgreich an antibakteriellen Naturstoffen, die aus Bodenbakterien isoliert werden. Hierbei sind insbesondere die seit Jahrzehnten genutzten Aktinobakterien sowie die bislang noch deutlich weniger erforschten Myxobakterien wertvolle Quellen für neue Naturprodukte. Das HIPS ist ein Standort des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes.

Den Forschenden gelang es nun, gleich zwei Wirkstofffamilien mit antiviraler Aktivität aus den versierten Naturstoffproduzenten zu isolieren: die Persicamidine und die Thiamyxine. Während die Persicamidine aus einem neu entdeckten Stamm der Aktinobakterien isoliert wurden, stammen die Thiamyxine aus einem Myxobakterienstamm, der von Wissenschaftler:innen des HIPS in der unmittelbaren Nähe des Instituts gefunden wurde. Im Rahmen des Bürgerwissenschaftsprojekts „Die Mikrobielle Schatzkiste“ konnte die Stammsammlung des HIPS sogar um ca. 1000 neue Myxobakterien erweitert werden, welche aus bisher über 700 eingesendeten Bodenproben isoliert werden konnten (mehr Infos unter: https://www.hips.saarland/sample/).

Beide oben genannten Bakterienfamilien sind bekannte Naturstoffproduzenten, insbesondere für Antibiotika. In den jetzt veröffentlichen Studien nutzen die Wissenschaftler:innen des HIPS in Kooperation mit den Virusspezialist:innen der Arbeitsgruppen von Prof. Thomas Pietschmann am TWINCORE und Prof. Ralf Bartenschlager am DKFZ ihre langjährige Erfahrung und Expertise auf dem Gebiet der Antibiotikaforschung, um die neuen Naturstoffe zu isolieren und hinsichtlich antiviraler Wirksamkeit genauer zu untersuchen.

Beide Naturstofffamilien zeigen strukturelle Besonderheiten, welche im Falle der Persicamidine umfangreiche Strukturanalysen notwendig machten. Für die Thiamyxine gelang es, durch sogenannte Fütterungsexperimente mit speziell markierten Vorläufersubstanzen zusätzlich sogar ein Biosynthesemodell zu beschreiben. Für beide neu entdeckten Naturstofffamilien konnten die Wissenschaftler:innen eine starke Hemmung von RNA-Viren in Corona-, Zika- und Dengue-Virusinfektionsmodellen nachweisen. Im Falle der Persicamidine sind die Aktivitäten gegen SARS-CoV-2 und hCoV-229E sogar in etwa vergleichbar mit dem bedingt zugelassenen Medikament Remdesivir, welches für die Behandlung von COVID-19 eingesetzt wird.

„Das Problem der antimikrobiellen Resistenz und die Suche nach neuen Antibiotika sind der eigentliche Kern unserer Forschung. Die COVID-19-Pandemie hat uns aber eindrücklich daran erinnert, wie wichtig auch die Entwicklung antiviraler Wirkstoffe ist. Deshalb wollen wir künftig unsere Expertise sowohl für die Entwicklung von Wirkstoffen gegen bakterielle als auch gegen virale Infektionen nutzen. Im Fall der Persicamidine sehen wir, dass der Ursprung für die Lösung globaler Probleme in manchen Fällen sogar direkt vor unserer Haustür liegt“, sagt Rolf Müller, Geschäftsführender Direktor des HIPS und Leiter der Abteilung Mikrobielle Naturstoffe und Koordinator des Forschungsbereichs Neue Antibiotika im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF).

Aufgrund ihrer guten antiviralen Aktivitäten stellen die neuen Naturstoffklassen vielversprechende Startpunkte für die Entwicklung neuer Wirkstoffe gegen SARS-CoV-2 und andere RNA-Viren dar. Eine biotechnologische Optimierung der Produktion oder die Entwicklung einer chemischen Syntheseroute sind wegen der vergleichsweise geringen Produktionsraten der Thiamyxine jetzt von großem Interesse, um den Naturstoff in ausreichenden Mengen für weitere Analysen zur Verfügung zu stellen. In Folgestudien wollen die Forschenden die Wirkmechanismen der beiden neuen Naturstofffamilien untersuchen, deren Aufklärung ein weiterer Schritt hin zur Entwicklung antiviraler Wirkstoffe sein wird.

Originalpublikationen:

Haack, P.A., Harmrolfs, K., Bader, C.D., Garcia, R., Gunesch, A.P., Haid, S., Popoff, A., Voltz, A., Kim, H., Bartenschlager, R., Pietschmann, T., and Müller, R.* (2022) Thiamyxins: Structure and Biosynthesis of Myxobacterial RNA-Virus Inhibitors, Angew. Chem. Int. Ed., e202212946
Keller, L., Oueis, E., Kaur, A., Safaei, N., Kirsch, S.H., Gunesch, A.P., Haid, S., Rand, U.,  Čičin-Šain, L., Fu, C., Wink, J., Pietschmann, T., and Müller, R.* (2023) Persicamidines—Unprecedented Sesquarterpenoids with Potent Antiviral Bioactivity against Coronaviruses, Angew. Chem. Int. Ed., e202214595
 

Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland:
Das HIPS in Saarbrücken wurde im Jahr 2009 vom HZI und der Universität des Saarlandes gemeinsam gegründet. Die Forscher suchen hier insbesondere nach neuen Wirkstoffen gegen Infektionskrankheiten, optimieren diese für die Anwendung am Menschen und erforschen, wie diese am besten zu ihrem Wirkort im menschlichen Körper transportiert werden können. http://www.helmholtz-hips.de/


Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung:
Wissenschaftler:innen am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) untersuchen in Braunschweig und an anderen Standorten in Deutschland bakterielle und virale Infektionen sowie die Abwehrmechanismen des Körpers. Sie verfügen über fundiertes Fachwissen in der Naturstoffforschung und deren Nutzung als wertvolle Quelle für neuartige Antiinfektiva. Als Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) betreibt das HZI translationale Forschung, um die Grundlagen für die Entwicklung neuartiger Therapien und Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten zu schaffen. www.helmholtz-hzi.de


TWINCORE – Zentrum für experimentelle und klinische Infektionsforschung:
Am TWINCORE arbeiten Grundlagenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen gemeinsam mit Medizinerinnen und Medizinern Seite an Seite in der Infektionsforschung. Unser Schwerpunkt liegt auf der translationalen Forschung, also der Schnittstelle zwischen Grundlagenforschung und der klinischen Anwendung. Das TWINCORE wurde im Jahr 2008 gemeinsam vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) und der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gegründet.  www.twincore.de


Deutsches Krebsforschungszentrum in der Helmholtz Gemeinschaft:
Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) ist mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die größte biomedizinische Forschungseinrichtung in Deutschland. Über 1.300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen im DKFZ, wie Krebs entsteht, erfassen Krebsrisikofaktoren und suchen nach neuen Strategien, die verhindern, dass Menschen an Krebs erkranken. Sie entwickeln neue Methoden, mit denen Tumoren präziser diagnostiziert und Krebspatienten erfolgreicher behandelt werden können. https://www.dkfz.de/de/index.html

 

Im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) entwickeln bundesweit mehr als 500 Forschende aus 35 Institutionen gemeinsam neue Ansätze zur Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Infektionskrankheiten. Ziel ist die sogenannte Translation: die schnelle, effektive Umsetzung von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis. Damit bereitet das DZIF den Weg für die Entwicklung neuer Impfstoffe, Diagnostika und Medikamente gegen Infektionen. Weitere Informationen: www.dzif.de.